Li Silberberg – Seitenwende
Li Silberberg Seitenwende 29.11. 2024 – 18.1.2025Opening: Thursday, November 28, 7 – 9.30 pmEinführung | Introduction: 20.30 Uhr PDF Publikation CV Artist Talk (in German)Samstag, 7. Dezember, 15 UhrBitte anmelden: office(at)semjoncontemporary.com Lesung | Reading (in...
Li Silberberg – Bibliothek/Library
Bibliothek/LibraryDie Installationsskulptur »Bibliothek/Library« von Li Silberberg in der Philologischen Bibliothek der Freien Universität Berlin Einführung von Dr. Klaus Werner,Direktor a.D. der Philologischen Bibliothek der FU15. Juni 2022 (Text Galerie...
»KioskShop berlin (KSb)«
Von Dezember 2000 bis zum Frühjahr 2010 hat Semjon H. N. Semjon mit seinem auf Dauer angelegten Gesamtkunstwerk »KioskShop berlin (KSb)« in Berlin-Mitte den Einzelhandel und die Kunstwelt auf einzigartige Weise miteinander verbunden.
Seit seiner Eröffnung im Oktober 2001 haben bis zum Frühjahr 2000 etliche Tausende Besucher den »KioskShop« besucht. Vergrößert wurde der Bekanntheitsgrad durch die »KioskShop goes«-Projekte an verschiedenen Orten, so 2002 beim Art Forum Berlin (Sonderstand) oder 2004 beim 1. Berliner Kunstsalon und Ku’damm 101 (Hotellobby), sowie Kulturkiosk Kanzler (München). Es folgten 2005 der 2. Berliner Kunstsalon, 2006 die zweiwöchige Teilnahme auf der MS Europa (EuropART) und 2007 der Auftritt im Kunsthaus Erfurt. 2008 stellte sich KioskShop auf der Tease Art Fair Cologne vor und bei Splendid Delicatessen (Berlin-Dorotheenstraße).
Auf Umwegen über eine weitere komplexe Kunstinstallation, »Konstruktion der Moderne: Die Berliner Sammlung Dr. Carl Theodor Gottlob Grouwet (1919)« wurde »KioskShop« durch Wände, die den Salon der Sammlung darstellten, quasi eingehaust und zur Galerieeröffnung von Semjon Contemporary im September für 10 Jahre als Straßen-Salon der Galerie genutzt.
Wiederauferstehung
Im Oktober 2021 wurden die Wände wieder abgebaut, um »KioskShop« als Ganzes wieder in Erscheinung treten zu lassen. Die sich abzeichnende Kündigung der Galerieräume nach 10 bzw. 21 Jahren durch die Berggruen Holding, die zwischenzeitlich das Gebäude erworben hatte, veranlassten Semjon nach einem 10-jährigen künstlerischen Sabbatical sein eigenes Werk vermutlich hier in der Schröderstraße ein vermutetes letztes Mal zu zeigen. Die Zukunft dieser einmaligen Installation war ungewiß. Mit dem Auszug der Galerie hätte der »KioskShop« zerschlagen und wohl zerstört werden müssen.
Das Kunstwerk ist für diesen Ort geschaffen worden (in-situ). U.a. wurden die elastischen Dielen gegen ein erschütterungsfreien Estrichboden ausgetauscht und der Terrazzoboden vom Künstler selbst gefertigt, sowie die selbst entworfenen Ladenmöbel in der Bildhauerwerkstatt gebaut und vor Ort miteinander zu einem Ganzen verschraubt, verspachtelt und lackiert. Eine Treppenverlegung und der Einbau einer Heizung ohne die Beeinträchtigung der Ladenarchitektur gehörten ebenso dazu. 10 Jahre (eigentlich 11) hat das Kunstwerk als fester Bestandteil die Entwicklung der Schröderstraße mitgestaltet. Die Ladeneinheit war im November 2000 die 3. vermietete. 2011 war jeder Laden in der kleinen und besonderen Schröderstraße mit Leben gefüllt.
Die auf Dauer angelegte Installation simuliert einerseits einen kleinen Kiezladen, andererseits spielt das Kunstwerk mit den Wahrnehmungen und löst Reflexionen über die Warenwelt und deren Vertrieb aus.
Das Gesamtkunstwerk
Im Mittelpunkt des begehbaren Kunstwerkes stehen unzählige »Product Sculptures«. Es sind mit gebleichtem Bienenwachs überarbeitete Produktpackungen, zumeist samt Inhalt: Brandt Zwieback, Ariel-Waschmittel, Coca-Cola-Dosen, Zeitungen und Zeitschriften, Süßigkeiten, Zigaretten und vieles mehr. Wie in einem Geschäft sind sie seriell in dafür entworfenen und gebauten Ladenmöbeln aufgestellt. Die malerisch weißen und fremd wirkenden Produktskulpturen, das minimalistische Design der weißen Möbel und der hell erleuchtete Raum schaffen Distanz und transzendieren das wohlbekannte Ladenambiente in eine andere Wahrnehmungs- und Erkenntnisebene. »Wie vor einem Gemälde wird Abstand vom Betrachter gefordert und gleichzeitig Neugier geweckt« (Jan Maruhn in einem Text zum »KioskShop« ca. 2001).
Das Design sollte eine abstrahierende Wahrnehmungsynthese aus der Erinnerung vom längst vergessenen Kolonialwarenladen über den Nachkriegs-Tante-Emma-Laden und dem heutigen, vorwiegend von Migranten betriebenen Späti-Shop sein. Die Installation war als Work-in-progress angelegt worden. Wie ein wirklicher Laden kamen ständig neue ›Produkte‹ dazu, die auch zu erwerben waren. Dafür hatte Semjon ein Präsentationssystem realisiert, dass zum einen das empfindliche Kunstwerk physisch schützt, und zugleich seinen Mehrwert durch den Schaukastencharakter optisch und metaphorisch generiert. Parallel zum Hauptkunstwerk hat Semjon einen ›MultipleShop‹ eingerichtet, der weitere, zumeist Auflagenobjekte oder auch in Serie hergestelle »Product Paintings« angeboten hatte. Zuweilen auch Kunstwerke von den Interventionskünstlern.
Das universell von allen Menschenvölkern seit ihrer Existenz genutzte Bienenwachs steht für mindestens zwei wichtige Impulse, die die Menschheit in ihrer Entwicklung nach vorne, zu dem heutigen homo sapiens, verholfen hat: Energie und Kommunikation. Die Möglichkeit, mit dem Bienenwachs durch das Kerzenlicht (generell: die Beherrschung des Feuers) den Tag in die Nacht zu verlängern, hat den Menschen verholfen, sich auf sich selbst zu besinnen und seine Zukunft (kreativ) zu gestalten, und nicht, wie bei allen anderen Lebewesen, den Einbruch der abendlichen Dunkelheit als Ruhezwang zu erleben (es sei denn, es sind nachtaktive Lebewesen). Gleichzeitig war das zu einem Brett geformte Bienenwachs ein Träger für die sich entwickelten Sprachen in Schrift- bzw. Zeichenform (vgl. die Überlieferung zumindest bei der griechisch/römischen Kulturen). Es ist geradezu grotesk, dass nun ausgerechnet jetzt der Mensch in seiner Profitgier die Grundlagen unseres Planeten rücksichtslos zerstört durch Vergiftung, Brandschatzung, Versiegelung, Wasserverschwendung und vieles mehr. Das weltweite Bienensterben (eigentlich allgemein: Insektensterben) raubt uns unsere Lebensgrundlage, und plötzlich wird das Bienenwachs ein rares und kostbares Naturprodukt. Dass Semjon das gebleichte Bienenwachs und nicht das naturgelbe bzw. braune Bienenwachs nutzt hat den Grund darin, dass das geklärte Wachs in Festform als ein metaphorisch aufgeladenen Weiß Reinheit und Ewigkeit implizieren kann, und visuell die darunterlegende Produktpackungsfarbe optisch nicht ‚verschmutzt‘. Übrigens wohlwissend, dass der Bleichprozess nicht gerade umweltfreundlich ist, dafür aber beides vereint: Die Natur und die vom Menschen geschaffene Kultur, gegebenenfalls auch als Anti-Natur zu verstehen.
Der Aspekt der Energie und der Kommunikation sind nicht unwichtig für die Produktskulptur und ihrem Repräsentationsraum im KioskShop (das leider nie realisierte Vorgängerprojekt DeliGrocery baute ebenfalls auf diese Fundamente). Das ‚laute‘ Design der Produktwelt, das einzelne Produkt im visuellen Wettbewerb mit anderen stehend, wird durch die semitransparente weiße Wachsschicht beruhigt und zugleich statuarisch erhöht. Gleichzeitig sind die eingearbeiteten rauchigen und wolkigen Strukturen eine malerische Verklärung des darunterlegenden. Malerei und Skulptur kommen kongenial zusammen. In der Wiederholung und der Inszenierung im Regal und der Verkaufsvitrine simuliert es den Marktalltag, verändert der genius loci das Kunstwerk konkret zur Ware.
Das Wachs ist gebundene Energie, die es vermag, das damit behandelte und veredelte, vom Menschen geschaffene Produkt haltbar zu machen. Nicht umsonst verwendet dieses Naturmaterial die Lebensmittel-, die Kosmetik-, die Textil- und die pharmazeutische Industrie. Zugleich verweist es auf das Bewahren, Erhalten und Schützen und wird automatisch Zeuge der sich verändernden Produkt- und Verlaufswelt.
Dass der KioskShop nach seinem elfjährigen Dornröschenschlaf nach wie vor die gleiche Frische und Stärke besitzt, vielleicht sogar noch mehr davon gewonnen hat (die Zeit ist in den elf Jahren vorangeschritten!) ist erstaunlich und vermag anzudeuten, wie es ist, wenn er noch in hundert Jahren vor Ort ist, oder zumindest in einem architektonisch nachgestalteten Raum in einem Museum zu erleben sein wird.
Interventionen
Die Interventionenreihe mit Gastkünstlern wurde von Semjon 2003 ins Leben gerufen, um zu überprüfen, ob es möglich ist, in einem eindeutig vorformulierten Ausstellungskontext, wie ihn »KioskShop« darstellte, ›fremde‹ Kunstwerke von anderen Künster:innen vorzustellen, ohne sie zu ersticken bzw. beliebiges Chaos zu kreieren. Dieses Konzept war aufgegangen und bis zum Frühjahr 2011 wurden über 30 sogenannte »Interventionen« mit Gästen durchgeführt. Diese Erfahrung hat sicherlich auch zur späteren Gründung der Galerie Semjon Contemporary geführt.
Im Herbst 2021 wurde die Tradition wieder aufgenommen, nicht in einem strengen Rhythmus. Die Intervention XXX-01 (hat die Berliner Künstlerin Petra Tödter (27.8. – 1.10.2021). Danach folgten bisher Marlies von Soden (10.12.2022 –25.2.2023) und Ellinor Euler (22.4. –3.6..2023).
Finanzierung
»KioskShop berlin« wurde finanziert durch eine Subskriptionssystem, das von rund 20 Förderern getragen wurde. Zudem konnte der Künstler mit dem Kunstwerk sowohl den Hauptstadt-Kulturfonds sowie den Berliner Senat überzeugen, das Projekt substantiell zu fördern. Last but not least, haben auch die Verkäufe der »Produktskulpturen« und der Multiples und »Product Paintings« zur Finanzierung des anspruchsvollen Kunstprojektes beigetragen. Der »KSb« war in all den Jahren täglich von Dienstag bis Samstag von 14 – 19 Uhr für den Publikumsverkehr geöffnet.
Zukunft
Über die Zukunft dieser einzigartigen Kunstinstallation lässt sich derzeit noch nichts wirklich vorhersagen. Bis zum 30. Mai 2027 ist KioskShop durch einen neuen Mietvertrag geschützt. Ob der Mietvertrag dann tatsächlich enden wird, hängt sicherlich von mehreren Faktoren ab, die sich zur Zeit nicht überschauen lassen. Qua Vertrag ist dies leider so geregelt.
Wenn Sie das Überleben des »KioskShop berlin« mit Networking, einem Artikel oder einer Spende unterstützen möchten, wenden Sie sich bitte an Semjon unter office{at}semjoncontemporary.com
Das ortsspezifische Kunstwerk ist in der Berliner, aber auch innerhalb der deutschen und internationalen Kunstwelt etwas besonderes, ein Gesamtkunstwerk, das es in dieser Radikalität bisher nicht gegeben hat.
Einmalig ist auch, dass es ein begehbares Gesamtkunstwerk gibt, dass nun integrativer Teil einer Galerie ist.